Hier, nicht im Tanzhaus, war Wertheims ältestes Rathaus – 1562 aufgegeben, 1607 abgerissen

 

Als Lorenz Baunach 1569 plante, am Platz des Eckhauses Markt/Friedleinsgasse (heute Marktplatz 18) einen Neubau zu errichten, wollte er seinen Bau gegen dem alten Rathauß ubersetzen, also die Obergeschosse vorkragen lassen. So steht es im zweitältesten Landschiedbuch (1543-1629), fol. 89v. Hierbei fällt zum ersten Mal das Stichwort »altes Rathaus«. Damit aber wird auch deutlich, dass Wertheims ältestes Rathaus – anders als in der gängigen Literatur seit dem 19. Jahrhundert behauptet – nicht im »Tanzhaus« am nördlichen Ende des Marktplatzes, zu suchen ist, sondern vielmehr an dessen südlichem Ausgang.

Es bildete die Eckbebauung Mühlenstraße/Friedleinsgasse und stand, wie zu zeigen ist, bis 1607 auf dem Platz der heutigen Mühlenstraße 2 und trug, wie übrigens andere Bauten im Bereich des »Engelsbrunnens« auch, einen Hausnamen – es war das.Haus »zum Esel«.

Seine Geschichte lässt sich aufhellen zurück bis ins frühe 15., ja sogar ins späte 14. Jahrhundert. Eine der ältesten Urkunden des tadtarchivs – sie datiert von 1428 – versah der spätere Stadtschreiber Veit Bayer hundert Jahre später mit dem rückseitigen Registraturvermerk Esellstuben betreffend und präzisierte damit die Örtlichkeit, um die es am 25. Januar 1428 ging.

Die beiden Grafen Johannes II. und Georg I., Vater und Sohn, verliehen an diesem Tag in Ansehung getreuer Dienste dem Bürger Claus Snyder, seiner Frau Kunna und ihren Nachkommen unßern hof mit aller siner zugehorunge, der etwan Wynbachs seligen gewest ist und der da eynsit stoßet an Haßlachs seligen hauß und andersit an die ecken der gaßen gein Frantzius huße uber gelegen, zu Erbrecht gegen jährlich drei Pfennig Bodenzins.

Vorbesitzer und Angrenzer wecken unser Interesse. Eckhaus gegenüber ist das Anwesen des niederadeligen Franz von Hettersdorf (das Areal des nachmaligen Vorderen Baunachshofs). Südlicher Angrenzer war einst Haslach. Als Vorbesitzer aber des jetzt verliehenen Hofs ist der verstorbene Winbach genannt. Winbach und Haslach ihrerseits werden 1390 im Register über die Pflasterung der Haupstraßenzüge unmittelbar nebeneinander aufgeführt. Damit lässt sich die Geschichte des »Esels« in Winbach-Besitz bis 1390 zurückverfolgen.

Die Hausverleihung 1428 enthält markante Bestimmungen, die den schon lang bestehenden Rang des Hauses als Tagungsort verdeutlichen. Claus Snyder, so heißt es, solle an der hyndern leren hoffstadt nach Belieben bauen dürfen, die vordere Behausung mit der Stuben hingegen in Dach und Fach unterhalten. Falls allerdings in der großen vordern stuben ... an gleßern oder an dem ofen Veränderungen nötig sind, gehe dies auf gräfliche Kosten (unter »Gläsern« lassen sich die Fenster aus Butzenscheiben verstehen). Was die große Stube indessen selbst betrifft, so haben Snyder und seine Nachkommen den Grafen jederzeit wege und stege, darinne und daruß zu gehen, einzuräumen, so oft es begehrt wird.

Dann heißt es weiter: Solange gräflicherseits kein Bedarf besteht, dürfen die Snyder das Vorderhaus mit der Stube ebenso nutzen wie das Hinterhaus. Wird jedoch die Stube seitens der Grafen benötigt , haben sie Sorge zu tragen, das[s] die stube geheißt (geheizt) werde. Nach Verlassen der Stube und nach Ausgang der Vesper bleibt eine Nutzung einschränkt; vor allem dürfen die Snyder kein spiel, luder oder ander ungefug darinne gestatten.

Die Verfügungen zeigen, dass es damals vorrangig um Sitzungen der gräflichen Herrschaft ging. In ihnen wurde über Stadtbelange, daneben auch anderes verhandelt. Ganz und gar ungewöhnlich aber mutet an, dass aus diesen Anlässen die Grafen von der Burg herunter in die Stadt zu den Bürgern kamen.

Der bislang älteste Nachweis für eine Verhandlung auf dem »Esel« datiert vom 23. Februar 1412 (Engel-Regest 117). An diesem Tag erschien umme vespercziit adir daby zu Wertheim in der stad in dem hofe, der eczwan Conraden Wynbachs seligen was, und zwar in der groß stuben daselbis der Propst des Klosters Mattenstadt (gegenüber Hafenlohr) vor Graf Johannes II., um dessen Schutz für seine Propstei zu erbitten. An der Zusammenkunft waren der Propst von Holzkirchen und der Deutschordenskomtur von Stadtprozelten zugegen, übrigens auch Heinrich von Mümlingen, der spätere Stifter der Heiliggeist-Kapelle im Kirchturm. Bei dieser Gelegenheit erfährt man den Vornamen des Hausbesitzers von 1390: Es war Conrad Winbach (Weinbach).

Claus Snyder (Schneider), dem der »Esel« 1428 verliehen wurde, war damals 1428/29 jüngerer und 1429/30 älterer Bürgermeister. 1429 amtierte er außerdem als Gotteshausmeister und zählte zur Führungsschicht. Um 1440 muss er verstorben sein. Kurz darauf verzeichnet das Landschiedbuch ein Urteil zwischen seiner Witwe Kun Snyderin und Peter Mangolt. Einen strittigen Dachkandel über der Eselstuben sollen sie gemeinsam legen. Bedeutsam ist dieser Eintrag noch mehr, weil die späteren Inhaber des »Esels« nachgetragen sind, nämlich Claus Morhart und zeitversetzt danach Johann Morhart. Damit tritt eine wiederum bemerkenswerte Familie auf den Plan.

Claus Morhart (I), aus Aschaffenburg kommend, wurde 1442 Bürger (das Bürgerbuch nennt ihn wohl irrtümlich Hans). Viel spricht dafür, dass er die verwitwete Kunigunda Schneider geheiratet und dadurch den »Esel« erworben hat. 1456/57 bekleidete er das jüngere, 1457/58 das ältere Bürgermeisteramt; beide Funktionen hat er 1468/69 und 1469/70 nochmals ausgeübt. 1465 erscheint er auch als Verweser der neuen Liebfrauenkapelle (Engel-Regst 318).

Aus seiner Zeit findet sich der erste Beleg für eine Sitzung des Ratskollegiums auf dem »Esel«. Die Stadtbaurechnung 1459/60 nennt als Zehrungskosten aus diesem Anlass: Item 6 1/2 Turnosen 2 Pfg. fur Wine, als der Rate am andern Tage nach des Burgermeisters und Bawmeisters Rechenunge uf der Eselstuben by ein[ander] waren. Dass die Grafen die Besetzung der jährlich wechselnden Bürgermeisterstellen selbst an diesem Ort vornahmen, geht aus der Stadtrechnung 1480/81 hervor: Item 3 Gulden 3 1/2 Turnosen 4 Pfg. in Goldswerunge Clausen Mullern, die unser gnediger Herre und der Rath fernt (= ferner) in der Eselstuben und in Clausen Mullers Huse verzert haben zwene Tage, als man die Burgermeinster satzt.

Claus Morhart (I) war damals bereits tot. Obwohl der gleichnamige Sohn seit 1479/80 das Bürgerrecht hatte, behielt seine Mutter – auch sie hieß Kunna (Kunigunda) – das Eigentum am »Esel« in den 1480er Jahren als Witwe. Erst 1497/98 lässt sich Claus Morhart (II) als Besitznachfolger belegen. Vielleicht schon unter ihm war am 16. Januar 1495 notariell jene Nachlass-Übergabe an die hiesige Marienkirche uf dem Esel in der Rathstuben beurkundet worden, an der die gesamte Stadtspitze, Schultheiß Nicolaus Müller, zehn Schöffen des Stadtgerichts und Stadtschreiber Johann Müller, teilgenommen hatte.

Claus Morhart (II) bekleidete das ältere Bürgermeisteramt erstaunlich oft: 1500/1501, 1507/08, 1514/15 und 1526/27. 1522 amtierte er sogar einmal anstelle itzo des Schultheissen (Stadtbuch 1518/31, S. 35r). Seine Vermögensverhältnisse stiegen in dreißig Jahren von 350 auf 800 Gulden. An Aktivitäten auf dem »Esel« erfährt man in seiner Zeit, dass selbst Eheverträge – damals »Ehebeteidigung« genannt – da geschlossen wurden. Ein solcher zwischen Endres Keßler und Anna Paul kam am 17. August 1524 zustande in Beysein Ebert Hundts dozumal uf dem Esel, in Gegenwart des bekannten gräflichen Amtmanns (Stadtbuch S. 59r).

Ein anderes schönes Zeugnis wird vom »Roten Buch« des Stadtarchivs im Beschrieb des grossen Markungsumgangs zwischen Wertheim und Kreuzwertheim 1530 überliefert. Sechs unparteiische Landschieder führten ihn auf gräflichen Befehl montags, den 7. November, durch. Am Tag darauf wurden die Steine gesetzt. Schließlich sind am Mittwoch die sechs uff die Eselsstuben khomen und [haben]ein Abschiedt von eynem Rathe genomen.

Claus Morhart (II) dürfte um 1530 gestorben sein. Ihm folgte Johann Morhart (I), der 1532/33 Bürger wurde. Er ist unter den Besitzern des »Esel« 1542 zur größtmöglichen Vertrauensstellung aufgestiegen. Damals erhielt er den Auftrag, als Obereinnehmer die wichtigeTürkensteuer bei der Führungsschicht von Grafschaft und Herrschaft Breuberg einzunehmen, während Bronnbachs Abt Markus für die Geistlichen und Bartholomäus Rieß für sämtliche Untertanen zuständig waren. Zur Ablieferung ist Morhart damals zum fränkischen Reichskreis nach Nürnberg gereist.

Die Bedeutung des Hauses »zum Esel« zeigt sich übrigens auch an seiner Ausstrahlung. In den Steuerlisten der damaligen »Türkenanlage« heißt das südliche Stadtviertel – uns als »Mühlenviertel« geläufig – das Virthail zum Esel, augenscheinlich der ursprüngliche Name. Er erscheint zuletzt in der Stadtrechnung 1559/60. Mit der 1562 erfolgten Verlegung der Ratsstube in den Vierherrnhof (Rathausgasse) wurde er gegenstandslos.

Namengebend war der »Esel« auch für die heutige Friedleinsgasse (nach der später namengebenden Ratsfamilie müsste sie richtig »Fridelsgasse« heißen). Die Bezeichnung »Eselgässlein« begegnet im 1542 beginnenden Landschiedbuch II häufig zwischen 1543/1560. Die Aufzählung der Straßen, in denen das 1555 von Graf Michael III. erlassene Verbot der Mistflecken in der Statt gelten sollte, nennt auch das Geßlen beym Esel.

In der städtischen Baumeisterrechnung von 1562 sind nochmals Ausgaben verzeichnet für die vier Jharmerckt, auf den Esel [in] die Rathstuben, under die Thor und den Wechtern. Am 24. Mai gleichen Jahres jedoch wurde das erste Mal uf der newen Ratsstuben Gericht gehalten. Da Graf Ludwig zu Stolberg-Königstein-Wertheim den Vierherrnhof den Stadtvätern für ihre Verwaltung eingeräumt hatte, ging damit die Nutzung des »Esels« als Ratsstube zu Ende. Nun bürgerte sich, wie eingangs bei Baunachs Bauvorhaben 1569 gezeigt, für eine Zeitlang die Bezeichnung altes Rathauß ein.

Johann Morhart (I), von Beruf Krämer (Kaufmann), hat jene einschneidende Veränderung nicht mehr erlebt. Er war am 26. Januar 1560 gestorben. Am 10. Juni 1562 stritten seine Erben aus zwei Ehen vor dem Stadtgericht über eine Teilung des »Esels«, denn es seien der Heuser zwey. Johann Morhart (II), der Sohn aus zweiter Ehe, hat sich später jedoch den Alleinbesitz sichern können. Das gräfliche Zinsbuch von 1589 (S. 160) sagt von seinem Hauß zum Esel genant, ist ime zugeschriben. Allerdings ereilte ihn im September 1590 ein früher Tod. Er amtierte gerade als jüngerer Bürgermeister.

 

Vom Renaissance-Nachfolgebau an der Stelle des »Esels« blieb nach dem Brand von 1934 nur diese Ecke übrig.

 

Sein Sohn Johann Morhart (III), noch keine sieben Jahre alt, hat später dem Beispiel seiner Vorfahren nicht mehr folgen können. Ehe er 1607 heiratete, trennte er sich von dem ererbten Besitz. Das altersgraue Anwesen zeigte zweifellos starke Baumängel. Der neue Eigentümer, der 1594 aus Grünsfeld eingebürgerte Schneider Hans Seuboth, ließ sogleich den vorderen Teil, den eigentlichen »Esel«, abreißen und wollte ihn, wie der alte Baw gestanden, neu errrichten.

Als nun derselbe mehrerteils gefertigt, griff unversehens die Herrschaft ein. Graf Ludwig III. zu Löwenstein-Wertheim verlangte eine Begradigung der Vorderfront. Seuboth habe gegen dem Gäßlein schregs anhero zu fahren, so dass seine Hausecke der gegenüber liegenden Baunachischen Behausung gleich sein und stehen solle. Mit anderen Worten, die Eckbebauung des »Esels« hatte ehedem ein Stück weit in die heutige Mühlenstraße vorgeragt. Seuboth, durch die nachträgliche Zurücknahme wohl nicht wenig geschädigt, blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen.

Als 1655 ein Nachbesitzer, der Bierbauer Nicolaus Morna, das Haus an den Grafen Ferdinand Carl übereignete, hieß das Anwesen noch immer zum Esel. Danach ist die Erinnerung erloschen. Durch die Brandkatastrophe von 1934 schließlich ging – bis auf ein schönes Renaissancedetail – auch Hans Seuboths Neubau von 1607 zu Grunde.