Einmal angenommen, jeder der etwa 13.000 Einwohner der Wertheimer Kernstadt hätte zehn Flaschen Wein im Haus, ergäbe sich die Zahl von 97.500 Litern Wein in der Stadt (wir rechnen natürlich in Bocksbeuteln). Weiter angenommen, dass sich 500 Weinfreunde fänden, in deren Kellern sogar 100 Bocksbeutel lagern, erhöht sich diese Zahl auf stattliche 131.250 Liter. Selbst wenn man davon ausgeht, dass der eine oder andere Wertheimer über mehr als 1000 Flaschen verfügt, bleibt die Zahl noch immer unter 150.000 Litern.

Klingt nicht schlecht – und ist doch wenig im Vergleich mit den großen Zeiten des Wertheimer Weins in der Frühen Neuzeit. Als im Jahr 1638 (also mitten im Dreißigjährigen Krieg) die Vorräte in den Wertheimer Weinkellern gezählt wurden, ergab sich eine Zahl von 650 Fudern – also etwa 600.000 Liter.
Eine kolossale Menge. Wein hatte damals enorme Bedeutung – als Nahrungs- und als Zahlungsmittel, als Handelsware und als Gegenstand der Arbeit. Fast jedermann hatte Wein im Keller. Die 61 Bürger des Tauberviertels kamen auf 137 Fuder, die 77 Haushaltsvorstände des Mühlenviertels um die heutige Mühlenstraße gar auf 246 Fuder – schwindelerregende 3.100 Liter pro Haushalt.

Weinlese und Qualität

Wenn der Herbst kam und die Lese anstand, machte sich ganz Wertheim auf in die Weinberge und gab an den Stadttoren den Zehnten ab, der der Herrschaft gebührte. Es versteht sich, dass die Tendenz dahin ging, nicht unbedingt die besten Trauben abzugeben.
In der herrschaftlichen Rentei wurden daraus die Zehntweine gekeltert. Ihre Qualität würden wir heute wohl als fatal empfinden. Aber um Qualität im heutigen Sinn ging es damals nicht, es ging um Menge. Und in den schlechten Jahren ging es darum, überhaupt einen Ertrag zu haben. Man kann sich vorstellen, was damals schlechte Jahre oder gar ein Totalausfall bedeuteten. Ein Mittel dagegen war der gemischte Satz, also der Anbau verschiedener Rebsorten in einem Weinberg. Der gemischte Satz sollte die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass wenigstens eine Sorte Frösten und Schädlingen standhielt.

Standorte der Kellerei Löwenstein

Wo in Wertheim lagerte der herrschaftliche Wein? Die Frage ist nicht ganz leicht zu beantworten, weil die herrschaftlichen Häuser von Steuern befreit waren und in den entsprechenden Erhebungen nicht vorkommen. Deshalb mit aller Vorsicht: 1640 lagen die Fässer der katholischen Löwensteiner im Keller der Kemenate sowie in einem „großen“ und einem „kleinen Herrenkeller“. In letzteren lagen die Zehntweine, in der Kemenate die Eigengewächse. Dreißig Jahre später finden wir die Kellerei dann an denjenigen Standorten, die sie für lange Zeit behalten sollte. Allen voran derjenige im alten Schultheißenhaus in Kreuzwertheim, in dem sich heute das Weingut „Alte Grafschaft“ befindet. 1671 lagen hier 23 Fässer, aufgeteilt auf einen „vorderen“ und einen „hinteren“ Keller. Im Jahr zuvor hatte das Haus Löwenstein über 188 Fuder verfügt, 172.000 Liter, unter denen sich als ältester noch Wein aus dem Jahr 1638 befand. So hielt es jedenfalls ein Verzeichnis der Weinvorräte fest.
1759 erreichte der Kreuzwertheimer Keller mit 121 Fudern (mehr als 110.000 Liter) seine größte Kapazität. Aber auch in der Stadt Wertheim selbst hatte das Weingut Löwenstein Keller. Hinter dem „Bauernkeller“ der Archivquellen dürfte sich die bereits erwähnte Rentei verbergen, in der die Traubenabgaben der Bauern verarbeitet wurden. Einigermaßen überraschend ist ein anderer Standort, der „Kirchhof“. Als solcher wurde auch noch nach der Anlage des Bergfriedhofs die Umgebung der Stiftskirche bezeichnet, die seit dem Mittelalter als Friedhof gedient hatte. Hier gab es zwei Standorte: Einen im Haus des Schulrektors (stadtauswärts neben der Kirche, heute verschwunden), und einen „unter der lateinischen Schule“, also im Untergeschoss der Kilianskapelle.

Die Kilianskapelle: Gymnasium und Weinkeller

Ob dieser Standort, der nur knapp unter Bodenniveau liegt und kaum als Keller bezeichnet werden kann, für den Ausbau von Wein wirklich geeignet war? Vielleicht zeigt er auch nur eine gewisse Knappheit der herrschaftlichen Gebäude in der Stadt. Man hatte eben nichts Besseres. 1794 lagen hier jedenfalls neun große und zwei kleine Fässer, im Haus des Rektors neun Fässer und in Kreuzwertheim 19 große und fünf kleine Fässer.
Dass der Rektor der Lateinschule über herrschaftlichen Weinfässern wohnte, mag seine Verbundenheit mit seiner Löwensteiner Herrschaft gestärkt haben. Wie sich der Wein im Untergeschoss auf die darüber lernenden Schüler ausgewirkt hat, weiß man nicht.
1471 begann der Wertheimer Graf Johann den Bau der dem Frankenapostel Kilian geweihten Kapelle. Ein bisschen steht sie wie auf Stelzen da, denn die eigentliche Kapelle befindet sich im Obergeschoss. Aber In der Gotik musste es immer weit nach oben gehen, und so ein Bau war am steilen Wertheimer Burgberg gewiss nicht leicht zu errichten. Anfangs wurden im Untergeschoss Knochen vom nebenan liegenden Friedhof gelagert. Dass die Kapelle später als höhere Schule und noch viel später gar als städtisches Museum dienen sollte, wird Graf Johann kaum geahnt haben. Wie Kilian zu der Entwicklung stand, ist auch nicht bekannt. Aber als Frankenapostel dürfte er mit der Nutzung als Weinkeller einverstanden gewesen sein.

Druck: Fränkische Nachrichten 15.8.2011