Am Samstag den 28. April des Jahres 1770 fand in Köln die erste Ziehung der Gnädig Garantirten Stadt-Cöllnischen Zahlen-Lotterie statt. Es war ein Lotto nach Genueser Art: Aus den Ziffern 1 bis 90 wurden fünf Gewinnzahlen gezogen. Damit alles mit rechten Dingen zuging, waren zwei Kommissare und ein Oberaufseher anwesend, beide bestellt von der Stadt Köln. Die Stadt Köln garantierte auch für 50.000 Gulden, aus denen Gewinne gezahlt werden sollten.

Die Stadt gab dem Lotto ihren guten Namen und stand ein für die Rechtmäßigkeit des Verfahrens. Eine wichtige Sache, denn beim Glücksspiel ist Vertrauen entscheidend. Das mag seltsam klingen, aber wo es nach Betrug riecht, wird niemand Lose kaufen. Dieses Vertrauen konnte der Glücksspielunternehmer Hubert Stockhausen, der (mit weiteren Gesellschaftern) der eigentliche Betreiber des Lottos war, alleine aber nicht schaffen. Deswegen tat er sich mit der Reichsstadt Köln zusammen. Die natürlich auch etwas davon hatte. Stockhausen garantierte der Stadt die jährliche Zahlung von 5.000 Gulden. Dafür erhielt er die Konzession und ein Lottomonopol in der Stadt Köln auf 12 Jahre. Die Ziehung war schon damals hübsch inszeniert. Als Glücksfee fungierte ein Waisenkind, das die Zahlen aus einem Glücksrad zog. Es waren Jahre eines unheimlichen Lottofiebers, das sich wie eine „geheimnisvolle Epidemie“ in Deutschland ausdehnte, wie Hans Grotjan formuliert hat, der über das Kölner Lotto 1923 eine Doktorarbeit verfasst hat. Überall wurden Lottos gegründet. Als Grund gibt Grotjan „allgemeine staatliche Finanznot“ an – ein bis heute bekanntes Phänomen.

Hubert Stockhausen kannte sich aus im Lottogeschäft. Sein Vater Jodokus Stockhausen betrieb das Augsburger Lotto und nun expandierte der Betrieb durch den Sohn von Schwaben im Süden des Heiligen Römischen Reichs nach Nordwesten an den Niederrhein. Die Verbindung mit Köln war eine glückliche Idee. Denn die Großstadt war im ganzen Reich bekannt, und wenn die Stadtverwaltung für ein Lotto gerade stand, dann konnte man sich darauf verlassen. So scheinen damals jedenfalls viele gedacht zu haben. Das Stadtkölner Lotto wurde ein Riesenerfolg. Allein für die 37. Ziehung im Juli 1771 wurden 27.675 Gulden Einnahmen erzielt. Geld, das aus allen Teilen des Reichs Richtung Köln floss.

In Köln hatte das „Haupt-Comptoir“ seinen Sitz, in den Regionen verkauften „General-Einnehmer“ die Billets. Diese Bezeichnungen hatten einen geradezu amtlichen Klang und verliehen dem Lotto eine Aura von Seriosität. Noch heute klingen sie eher nach Bank als nach Glücksspiel.

General-Einnehmer des Kölner Lottos saßen u. a. in Hamburg, Stuttgart, Frankfurt, Lüttich, Braunschweig, Basel, Erlangen, Gotha, Aachen, Mainz, Hanau und Nürnberg. Das Stadtkölner Lotto war im ganzen Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation populär. Und es erreichte auch kleinere Städte wie Wertheim im heutigen Nordosten Baden-Württembergs. Damals war Wertheim Zentrum einer Grafschaft, die zwar klein, aber selbständiges Mitglied des Heiligen Römischen Reichs war. Ein „Reichsstand“ genau wie die Reichsstadt Köln. In Wertheim verkauften fünf Einnehmer die Lose des Kölner Lottos. Zwei Gastwirte und ein Kaufmann waren darunter, dazu der Wertheimer Schutzjude Samuel Stadecker und mit Archivsekretär Oeder sogar ein Beamter. Hier zeigt sich eine erstaunliche soziale Bandbreite, was das Lotto betrifft. Der Archivsekretär mag allerdings eine Ausnahme gewesen sein.

Zwei Jahre lang ging alles gut. Die Wertheimer kauften Billets und Geld und Listen traten die Reise über Main und Rhein nach Köln an. Für diese Strecke brauchten die Schiffsleute und mit ihnen Nachrichten und Neuigkeiten einige Tage und es ist aus heutiger Sicht schon erstaunlich, dass unter solchen Bedingungen überhaupt jemand Lotto spielte. Aber es funktionierte. Das Heilige Römische Reich bot einen rechtlichen Rahmen, dem man vertraute – auch beim Glücksspiel.

Nach gut zwei Jahren allerdings gab es Ärger. Samuel Stadecker glaubte nämlich, ein von ihm eingesandtes Billet habe in Köln einen erheblichen Gewinn erzielt. Er notierte sich die von ihm vermittelten Lottozahlen in einem Buch. Daraus ging hervor: Er hatte eine Terne gewonnen, drei Richtige also, der zweithöchste Gewinn. Stadecker hatte gerechnet und war auf 1240 Gulden Gewinn gekommen. Eine rasante Summe. Aber es gab ein Problem: Die Kölner konnten die siegreichen Nummern auf ihren Unterlagen aus Wertheim nicht finden.

An dieser Stelle ist ein Blick auf das Verfahren nötig, nach dem das Lotto funktionierte. Es ging so: Die auswärtigen „Collecteurs“ schickten vor der Ziehung Listen mit ihren Zahlen, den Losnummern und den gesetzten Beträgen nach Köln. Diese Listen wurden einer Kommission vorgelegt, im „Haupt-Comptoir“ kopiert und dann in einem versiegelten Sack aufbewahrt. So sollte sichergestellt sein, dass die Lottoadministration nicht ohne die Kommission in diese Listen Einsicht nehmen oder sie manipulieren konnte. Vertrauen in das Verfahren war, wie gesagt, das A und O beim Lottospiel.

Auf die Beschwerde aus Wertheim hin sah die Kommission in den Kopien und in Stadeckers Originallisten nach, konnte aber keine Terne entdecken. Dies schrieb man nach Wertheim. Beigefügt waren durch den Kölner Magistrat beglaubigte Abschriften der Stadeckerschen Listen aus dem Kölner Sack. Im Übrigen könne Stadecker jederzeit vorbeikommen oder einen Beauftragten schicken, um selbst Einsicht zu nehmen und sich zu überzeugen, dass kein großer Gewinn vorlag. Nur verschicken könne man die Listen nicht. Damit sei die Sache wohl geklärt, schrieb man aus Köln.

Stadecker sah das anders. Ihm diente die Weigerung der Lottoverwaltung, die Originallisten herauszurücken, als Beweis für seinen Gewinn. Stadecker spricht in Schreiben an die Wertheimer Regierung von der „Gewinnsucht der General-Administration des Reichs-Stadt-Cöllnischen Lottos“. Reine Schikane gegen Auswärtige, so Stadecker. Außerdem sei derartiges Verhalten der Kölner schon öfter vorgekommen und auch „in denen öffentlichen Zeitungs-Blättern“ erwähnt worden.

Damit hatte er so Unrecht nicht. Tatsächlich kam es damals zu Vorwürfen gegen Stockhausen wegen Betrügereien bzw. nicht ausgezahlter Gewinne. Teils langjährige Prozesse begannen. Auch im Fall des Wertheimer Stadeckers ging alles recht langsam. Im März 1773 musste er sogar feststellen, dass in Wertheim wieder Gewinnscheine aus Köln verkauft wurden. Bei der Wertheimer Regierung erreichte er, dass erneut der dringende Wunsch Richtung Köln geäußert wurde, die Originallisten zu überschicken. Die in Wertheim bei anderen Einnehmern noch vorhandenen Lottogelder waren unterdessen mit Arrest belegt worden.

Tatsächlich bekam man eine Antwort von Bürgermeister und Rat der Stadt Köln. Allerdings nicht die gewünschte. Köln schrieb vielmehr, das Wertheimer Vorgehen sei unbegreiflich. Das Verfahren in Köln sei vollkommen plangemäß, die beglaubigten Kopien dürften nicht in Zweifel gezogen werden. Wo komme man denn hin, wenn zwei Mitglieder des Heiligen Römischen Reiches sich nicht mehr über den Weg trauten? Eine Beglaubigung durch den Magistrat der Stadt Köln dürfe nicht angezweifelt werden. Der Wertheimer Arrest auf die nach Köln gehörenden Lottogelder sei rechtswidrig und müsse umgehend aufgehoben werden.

Nicht nur das Vertrauen in das Kölner Glücksspiel hatte gelitten, sondern auch das Vertrauen zwischen zwei Reichsständen war dahin. Ein übler Zustand.

In Wertheim machte Stadecker den nächsten Schritt. Er beantragte, die arretierten Gelder an ihn auszuzahlen. Die Regierung genehmigte dies. Dann aber kam aus Köln noch ein Brief, in dem Pfändungen bei Wertheimer Schiffsleuten angekündigt wurden, sollte man in Wertheim hart bleiben.

Dieser Hinweis wog schwer. Denn der Handel über Köln war für die Wertheimer Schiffsleute lebenswichtig, während umgekehrt die Bedeutung Wertheims für den Kölner Handel kaum ins Gewicht fiel. Die Wertheimer Regierung packte diesen Umstand in die Formulierung, dass die eigenen Schiffer die Stadt Köln nicht meiden könnten, „hingegen die Cöllner wohl der hiesigen Grafschaft müssig gehen könnten und ohnehin gar selten anhero kämen.“

Die Wertheimer Regierung kamen nun auch Zweifel an der Aufrichtigkeit Stadeckers. Seine Forderung sei möglicherweise „nicht ganz lauter“. Denn schließlich hatte er recht lange gewartet, bevor er seine Vorwürfe anbrachte. Und warum reiste er eigentlich nicht einfach nach Köln, um die Listen zu überprüfen, wie es die Kölner vorgeschlagen hatten?

Dann begann ein neues Jahr und die Lottosache nahm eine überraschende Wendung. Es kam nämlich ein Schreiben aus Köln mit der Nachricht, dass der General-Administrator Stockhausen „von dem besagten Lotto gänzlich abgekommen sei“. Mit anderen Worten: Er war gefeuert. Denn man hatte zahlreiche Unregelmäßigkeiten und „Intriguen“ bei den unter seiner Führung durchgeführten 63 Ziehungen festgestellt. Stockhausen musste aus der Lotto-Gesellschaft ausscheiden. Für Stadecker eigentlich ein Grund zum Jubeln. Aber eben nur eigentlich, denn die Sache hatte den Haken, dass die neue Lottoadministration erklärte, für Stockhausens 63 Ziehungen nicht zuständig zu sein. Was früher war, gehe sie nichts an, so die neue Kölner Lottoadministration. Stadecker musste also, wollte er an seinen Ansprüchen festhalten, diese als private Forderung bei Stockhausen geltend machen. Die ganze schöne staatliche Garantie für das Lotto galt plötzlich nichts mehr.

Immerhin gelang es Stadecker in den nächsten Jahren, von den in Wertheim beschlagnahmten Kölner Lottogeldern einige hundert Gulden zu bekommen. In den Jahren 1774, 1780 und 1787 ergingen in Wertheim generelle Glücksspielverbote. Das Stadtkölner Lotto überlebte die durch Hubert Stockhausen ausgelöste Vertrauenskrise. 1777 lässt sich wieder ein General-Einnehmer des Stadt-Cöllnischen Lottos in Würzburg nachweisen. Aber die Jahre des Lottofiebers waren vorbei. Auch die Stadt Köln musste die Hoffnung auf finanzielle Sanierung durch Glücksspiel wohl begraben.

Druck: Eigentum aktuell 5/2013