Jeder Wertheimer kennt den Platz zwischen Stiftskirche und Kilianskapelle. Auch in den Bronnbacher Archivalien ist er bereits mehrfach vorgekommen. Im Jahr 1602 musste Graf Ludwig zu Löwenstein sich aufregen, weil Jauche über den Platz lief. Zwanzig Jahre später wurde hier ein Schauspiel aufgeführt, das die ganze Stadt in Atem hielt. Und noch später wurde das Souterrain der Kapelle dann als Weinkeller genutzt. Jetzt soll von einem weiteren Ereignis an dieser Stelle die Rede sein. Einem traurigen: 1607 stürzte der sechzehnjährige Schüler Stefan Veit auf der Treppe der Kilianskapelle zu Tode.
Was war passiert? Es hatte wohl ein Gerangel unter den Schülern der Lateinschule gegeben, die damals in der Kilianskapelle untergebracht war. Stefan Veit erhielt einen Stoß, fiel die Treppe hinunter und schlug unten höchst unglücklich auf mit dem Kopf „oberhalb des linken Ohrs“. Acht Tage später war er tot. Er musste „seinen Geist in blühender Jugend jämmerlich aufgeben“, wie der Vater an die Kanzlei schrieb. Er wollte keine Rache, sondern die Bestrafung dem Allmächtigen (und dem regierenden Grafen Löwenstein) überlassen. Etwas anderes aber wollte er doch: Die Arzt- und Barbierkosten ersetzt haben, die durch die Verletzung seines Sohnes entstanden waren. Eine ganze Woche war Stefan Veit zum Entsetzen der Eltern daheim dahingesiecht, bevor der Tod ihn erlöste. Da war Einiges an Behandlungskosten zusammengekommen, vom Verdienstausfall ganz zu schweigen. Vater Veit hatte Wein verkaufen müssen, um die Familie über die Runden zu bringen. Und er wusste auch, wer dafür geradestehen sollte. Denn sein Sohn war, so seine Überzeugung, von seinem Schulkameraden Jost Kraft gestoßen worden. Deshalb sollte nun seine Mutter Margret Kraft die Kosten ersetzen, fand Veit. Zumal sein Sohn gerade in das Alter gekommen war, in dem er seinem Vater bei der Arbeit helfen konnte, was er wegen seiner Armut bitter nötig hatte.
Margret Kraft (die Witwe war, was später noch wichtig wird) aber wollte nicht zahlen, und auch sie hatte einen guten Grund. Denn ihr Sohn war erst zwölf Jahre alt, nach heutigen Begriffen also strafunmündig, und was noch wichtiger war: Er war es nicht gewesen. Veit hatte ihn zu Unrecht als Stoßenden angegeben, meinte die Witwe. Vermutlich habe es überhaupt nie einen Stoß gegeben, sondern Stefan Veit sei nur unglücklich gefallen. Und dass er gefallen sei, so die Witwe, sei gar nicht verwunderlich, denn der Bub sei auf den Beinen sehr schwach und „mit Haupt-Blöd-Schwindel und böser Krankheit beladen gewesen“. Vater Veit persönlich habe ihr des Öfteren gesagt, sein Sohn sei sehr schwächlicher Natur. Und damit nicht genug. Die Witwe Kraft wusste weiter zu berichten, dass der junge Veit wenige Tage zuvor von einer hölzernen Kugel getroffen worden war (ein Hinweis auf die Spiele der Kinder in den Wertheimer Gassen), die blaue Flecken hinterlassen habe. Alles in allem, so die Witwe, sei der mehrfach vorgeschädigte, ohnehin kranke Stefan Veit auf der Schultreppe wohl einfach umgekippt.
Dabei legte sie Wert auf die Feststellung, dass es ihr keineswegs an Mitgefühl mangele. Schon allein, weil die beiden Kinder befreundet gewesen waren. Sie hatten sich „stets zusammen gehalten“ schreibt sie. Die Witwe hatte sogar vorgehabt, Vater Veit „aus christlicher Lieb" etwas Geld zu zahlen, da Veit sich aber nun an den Grafen gewandt hat, wird der schon wissen, was zu tun ist.
In der Kanzlei wusste man aber offensichtlich nicht, was zu tun war. Deshalb tat man gar nichts. Am 19. Dezember reichte Veit deshalb seine Bittschrift nochmals ein, in nahezu identischem Wortlaut.
Der Winter ging vorbei, der Frühling kam, es wurde Sommer. Nichts tat sich, und wieder schrieb Veit. Diesmal schon in strengerem Tonfall von der „freventlichen Mordtat“ des jungen Kraft. Er empfand es als Hohn, dass er nicht nur seinen Sohn (und dessen Arbeitskraft) verloren hatte, sondern auch noch auf den Kosten sitzenblieb. Im August beschloss die Kanzlei, Veit solle eine Auflistung seiner Forderungen samt Belegen einreichen.
Dabei kam Veit, mit Arztkosten, Verdienstausfall I und allem anderen zusammengenommen, auf über 100 Gulden. Apotheker Johann Fischer war vertreten mit Kosten für ein Pflaster „über das Haupt zu schlagen“, er berechnete „Stärksaft“, Maulbeersaft, Magenpflaster und Rosenwasser. Barbier Leineweber bescheinigte 20 Batzen fürs Verbinden. Der Sargschreiner hatte ebenso 42 Kreuzer verlangt wie der Totengräber, und die gleiche Summe hatte Veit fürs Leichenmahl ausgegeben.
Margret Kraft antwortete mit einem langen juristischen Schriftsatz. Darin stand, niemand wisse, was die Buben „ dazumal als sich der Fall begeben in der Schul- oder Kirchen miteinander für Fantasey getrieben“, und die Angaben zu den Unkosten seien weit überhöht. Die Unschuld ihres Sohnes will sie mit der Beobachtung belegen, dass er am Tag des Unfalls sein Morgengebet in ihrer Gegenwart verrichtet und aus dem Evangelium gelesen habe. Die Wertheimer Kanzlei reichte das aber nicht. Im März 1610 wurde beschlossen, Veit solle 50 Gulden von den Vormündern Kraft für seine Kosten erhalten. Zur Begründung hieß es, Kraft Junior sei schuldig. Er habe aus Mutwillen und Bosheit Veits Söhnlein angegriffen und geworfen, „dass er darüber Tods verblichen“. Wegen seiner Jugend (er war ja erst zwölf) könne das Kind nicht bestraft werden, aber die Umstände dürften nicht ungestraft bleiben. Deshalb setzte die Kanzlei auch eine Strafe von 200 Gulden fest, zu zahlen „ad pias causas“ (also zu wohltätigen Zwecken) beim Wertheimer Spital innerhalb von 14 Tagen.
200 Gulden waren viel Geld. Dabei dürfte eine Rolle gespielt haben, dass Margret Kraft Witwe war. Bei einer Witwe wurden für das zukünftige Erbe ihres Sohnes Vormünder bestellt, die den Besitz verwalteten und darüber Rechnungen führten. Diese Rechnungen kontrollierte wiederum eben die Kanzlei, die hier auch zu Gericht saß. Man wusste also über die finanziellen Verhältnisse der Familie Kraft Bescheid. So nutzte die Obrigkeit den Tod des Schülers auf der Treppe der Kilianskapelle, um dem Wertheimer Spital Einnahmen zu verschaffen.
Druck: Fränkische Nachrichten 3.5.2012